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Die Welt aus der Känguru-Perspektive

Die Politik der Zukunft

Südtirols Politik setzt auf Pragmatismus statt auf Visionen. Doch in Zukunft wird es mehr brauchen als eine Politik der Bestandsverwaltung.

Beobachter*innen der Südtiroler Politik – ob sie die Verhältnisse nun von außen in den Blick nehmen oder von innen – wundern sich nicht selten über den seit Jahrzehnten anhaltenden Erfolg der Südtiroler Volkspartei (SVP), die seit dem Zweiten Weltkrieg die Südtiroler Politik dominiert.

Dieser Erfolg hat historisch gesehen verschiedene Ursachen. Am wichtigsten war sicher der bis Anfang der 90er Jahre währende Kampf um Südtirols Autonomie, der alle Gruppierungen und Interessen innerhalb der Sammelpartei unter einem Banner vereinte und noch heute vor allem in den älteren Generationen für einen zuverlässigen Stimmenpool sorgt.

Doch auch wenn das einstige Gewinnerthema heute an Strahlkraft eingebüßt hat und andere Probleme und Anliegen im Vordergrund stehen, bleibt die SVP mit Abstand die größte Partei im Land und erzielt Wahlergebnisse jenseits der 40 %-Grenze, von denen die allermeisten Parteien in Europa nur träumen können – und dies, obwohl die italienischsprachigen Südtiroler*innen, also mindestens ein Viertel der Bevölkerung, aus prinzipiellen Gründen nicht wirklich zur Zielgruppe gehören. Wie ist das möglich?

„Stabil. Stark. Südtirol!“ lautete der Titel des SVP-Wahlprogramms für die Landtagswahlen 2018. Heute steht die SVP wie kaum eine andere Südtiroler Partei für die Verteidigung und Bewahrung des Status quo: in einem Land, in dem Wohlstand und Vollbeschäftigung herrschen, ein durchaus Erfolg versprechendes Image. Sie hat es damit geschafft, ihre Herangehensweise zumindest in einer Hinsicht auf den Kopf zu stellen: Wurde sie einst zusammengehalten vom Kampf für eine selbstbestimmte Zukunft, also vom Wunsch nach einer radikalen Änderung des Systems, ist sie heute die Systempartei schlechthin, der die behutsam-pragmatische Fortschreibung des Bestehenden als politisches Leitmotiv dient.

Verwaltung statt Visionen

Doch die Blumen am Wegrand pflückt heute längst nicht nur die SVP. Der für bäuerlich geprägte Regionen nicht untypische Südtiroler Pragmatismus war in den letzten Jahrzehnten über weite Strecken der bestimmende Zug der gesamten Politik in der Autonomen Provinz – landesweit ebenso wie in den Gemeindestuben. Statt progressiver Visionen dominierte konservative Zurückhaltung die politische Debatte.  

Selbst klassisch progressive Ideen von Parteien links der Mitte wurden (und werden bis heute) in ein konservatives Gewand gehüllt, um sie anschlussfähig zu machen in der öffentlichen Diskussion einer vom Wohlstand gesättigten Gesellschaft. Denn nur so wurden sie in einem von konservativem Denken dominierten Umfeld überhaupt ernst genommen und nicht sofort verworfen mit dem Hinweis, dass jede Änderung der gegenwärtigen Situation auch den ökonomischen Erfolg in Gefahr bringen könnte.

Und so kamen und kommen der Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt und gegen Schadstoffe in der Luft, gegen den Abbau des Sozialstaats, gegen den Bozner Flughafen oder gegen den „Overtourism“ ohne ein klares Ziel für die zukünftige Entwicklung aus – ebenso wie der Kampf gegen die Aushöhlung des Autonomiestatus und für das Recht auf Verwendung der Muttersprache auf der anderen Seite des politischen Spektrums: All diese politischen Anliegen konzentrieren sich auf das Heute, das in dieser oder jener Hinsicht gegen die echte oder imaginierte drohende Veränderung zu verteidigen ist. Dass das Bestehende diese Verteidigung wert ist, versteht sich von selbst. Fragen danach, wo Südtirol als Land und als Gesellschaft in 20, 30 oder gar 50 Jahren stehen soll, wirken für eine pragmatisch-konservative Herangehensweise an Politik deplatziert.

Es ist bezeichnend, dass die noch von der Südtiroler Marketing Gesellschaft (SMG) entwickelte und heute von ihrer Nachfolgerorganisation IDM fortgeschriebene Vision von Südtirol als „begehrenswertestem Lebensraum Europas“ bis heute von den meisten Südtiroler*innen nicht als gemeinsames Ziel, sondern als reiner Marketing-Slogan angesehen wird. In Visionen zu denken, ist im Südtiroler Politikduktus nicht vorgesehen.

Südtirol befindet sich mit seinem Pragmatismus in guter Gesellschaft: Denn in vielen europäischen Ländern haben im Zeitalter der Globalisierung ähnliche Entwicklungen stattgefunden: Visionen hatten in der öffentlichen Debatte praktisch keinen Platz; an ihre Stelle traten Effizienzsteigerung und Optimierung bis an die Grenzen des Krankhaften.

Wie weiter?

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass diese Entwicklung langsam an ihr Ende gekommen ist. Schon seit der Finanzkrise 2008/09 werden wieder grundsätzliche Fragen nach der Zukunft gestellt; vormals als radikal empfundene Antworten wie das bedingungslose Grundeinkommen erhalten Auftrieb und Aufmerksamkeit. Auch in Südtirol hält eine neue Form der Politik Einzug: In Mals und im oberen Vinschgau propagiert man offensiv die Schaffung einer Bioregion. Und auch die Idee eines nachhaltigen und CO2-neutralen Südtirols scheint im Zuge der Fridays-for-Future-Demonstrationen plötzlich als möglicher Ankerpunkt für konkrete politische Entscheidungen. Es sind Beispiele wie diese, die zeigen: Plötzlich wird über das Ziel in der Zukunft geredet und nicht mehr nur über den Erhalt des Bestehenden. In diesem geänderten politischen Umfeld sind klare Visionen für die Zukunft unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsform die besseren Argumente als eine Garantie für persönlichen materiellen Wohlstand im Hier und Jetzt. Sogar die neu lancierten Bestrebungen nach Doppelpass und Selbstbestimmung sind Ausdruck einer – wenn auch an der Vergangenheit orientierten – Vorstellung für die Zukunft des Landes Südtirol.

Es ist nicht zu bestreiten, dass diese „Repolitisierung“ der Politik, die schon auf eine reine Verwaltungstätigkeit reduziert schien, selbst ihren Ursprung in Krisen verschiedener Form hat, die nicht nur positive Auswirkungen haben.

Stabilität und Wohlstand sind für jedes Land ein erstrebenswerter Zustand. Doch ohne echte Krisen und Herausforderungen hält irgendwann auch im politischen Ideenwettbewerb Bequemlichkeit Einzug; es fehlt an Dynamik, es fehlt die Bereitschaft zur Veränderung. Und damit steigt die Gefahr, die von der nächsten Krise ausgeht – weil weder neue Rezepte noch neue Ideen zur Verfügung stehen, die auszuprobieren in Frage käme. In der Krisenzeit lässt sich die verpasste Denkarbeit dann nicht mehr so leicht nachholen. Panik ist ein schlechter Ratgeber.

Zukunftskompetenz entwickeln

Die Verhandlung von progressiven Konzepten, die politische Fragestellungen von der gewünschten Zukunft her denken und nicht von der bestehenden Gegenwart, ist für die alteingesessene, konservative Politik eine ungewohnte Herausforderung. Doch sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, ist keine Option: Auch in Südtirol werden sich Politiker*innen und Parteien an die neue Situation anpassen müssen. 

Gerade die Parteien sollten sich daran erinnern, dass ihre Aufgabe nicht nur in der Aggregation von ähnlichen Interessen liegt. Als politische Denkfabriken sind sie prädestiniert dafür, mögliche und erstrebenswerte Zukunftsszenarien für unsere Gesellschaft zu entwickeln. Nicht nur in Südtirol wurde dieser Bereich in den letzten Jahrzehnten stark vernachlässigt. Doch angesichts der sich ändernden politischen Großwetterlage ist ein Umdenken gefragt. Jene Parteien, die sich im Wettstreit um die besten Ideen für die Zukunft gut positionieren und überzeugende Visionen entwickeln können, werden auch hier ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung und ihre Stimmenanteile langfristig ausbauen.