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Die Welt aus der Känguru-Perspektive

Was das BIP über unsere Werttheorie verrät

 

In den Post-Corona-Tagen haben die Wirtschaftsprognosen Hochkonjunktur – wohl gerade weil eine Rezessionsvorhersage schlimmer klingt als die andere. Zeit, sich mit der Theorie hinter den Zahlen kritisch auseinander zu setzen. Welcher Wert wird eigentlich für die Berechnung unseres Wohlstands verwendet? Und ist er überhaupt noch zeitgemäß? Die Ökonomin Mariana Mazzucato liefert zwar keine vorgefertigten Antworten, doch sie hilft dabei, zumindest die richtigen Fragen zu stellen.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) spielt bei der öffentlichen Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Wirtschaftsraums, sei es nun ein Land, ein Kontinent oder auch die ganze Welt, eine entscheidende Rolle. Eine komplizierte Wirklichkeit wird darin auf eine einfache Zahl reduziert und liefert die ideale Vorlage für Analysen und Urteile der Expert*innen und Fachleute. Geht es nach unten oder nach oben? Wirtschaftsjournalismus ohne das BIP wäre wie Segeln ohne Mast: nicht unmöglich, aber sicher keine einfache Sache.

Doch wie kommt das ominöse BIP eigentlich zustande? Seine Allgegenwärtigkeit im öffentlichen Diskurs über die wirtschaftliche Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu dem Wissen darum, wie die Kennzahl berechnet wird. Selbst ausgewiesene Fachleute tun sich schwer damit, das System hinter dem System of National Accounts (SNA) auf eine allgemein verständliche Weise zu erklären. In dem zuletzt 2008 überarbeiteten und über 600 Seiten starken Regelwerk sind alle international anerkannten Methoden zur Erhebung des Gross Domestic Product (GDP), wie das BIP im Englischen heißt, gesammelt. Doch die Regeln sind keineswegs so eindeutig und wissenschaftlich fundiert, wie man vermuten möchte. Das SNA strotzt nur so vor willkürlichen und häufig genug historisch-politisch bedingten Vorgaben, die keiner klaren Logik folgen und daher auch längst keine so eindeutigen und zuverlässigen Ergebnisse liefern, wie uns der stolz präsentierte Endwert der Berechnungen unter dem Strich glauben machen will.

The GDP measures everything, in short, except that which makes life worthwhile.

Robert F. Kennedy (1925-1968)

Nur einige Beispiele: Warum ist Hausarbeit kein Teil des BIP, solange sie kostenlos ausgeführt wird – und wird es, sobald eine bezahlte Fachkraft die Tätigkeit erledigt? Warum werden im Gegensatz dazu für die Wertschöpfung nicht nur die tatsächlich von Mietern bezahlten Mieten in einem Land ins BIP aufgenommen, sondern auch die hypothetischen Mieten, die jeder Eigennutzer einer Immobilie sich sozusagen selbst bezahlen müsste? Warum schafft es Wert, wenn die öffentliche Hand dafür bezahlt, dass ein verschmutzter Fluss gereinigt wird – doch wenn die Verschmutzung durch Regeln und Gesetze von vorne herein vermieden wird, geht dieser Wert verloren? Solche und ähnliche Fälle gibt es zuhauf. Und auch in der historischen Entwicklung des BIP zeigt sich, dass es lange Zeit überhaupt nicht eindeutig war, welche Tätigkeiten Wert schaffen und welche nicht.

Trotz aller Kritik: Eine scheinbar absolute und bis auf die Nachkommastelle berechnete Zahl wirkt für das menschliche Gehirn wesentlich überzeugender als alle bekannten und berechtigten Zweifel daran, ob die Berechnungsmethode stimmt. Das auf eine Zahl reduzierte BIP ist damit ein gutes Beispiel für das WYSIATI-Prinzip: What You See Is All There Is ist für den Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman die Beschreibung der menschlichen Tendenz, vorhandene Informationen automatisch zu einer sinnhaften Geschichte zu ergänzen, selbst wenn wir wissen, dass diese Informationen unzuverlässig oder unvollständig sind. Die Ursache für ein sinkendes oder steigendes BIP wird schnell in dieser oder jener politischen Entscheidung gesucht, auch wenn es dafür keine Belege gibt und die Berechnung des BIP selbst äußerst ungenau ist.

Alle schauen auf das BIP

Gerade weil das BIP so viele Urteile und Schlussfolgerungen beeinflusst, fordert die Ökonomin Marina Mazzucato in ihrem Buch Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern eine neue Diskussion über den hinter dem BIP stehenden Wertbegriff – und seiner Grenzen, Vor- und Nachteile. Sie liefert dafür keine radikalen Rezepte und keine ideologischen Standpunkte, aber eine schonungslose Analyse der Schwachstellen unseres Wirtschaftssystems, die bereits Schäden für unsere Gesellschaft verursacht haben und auch in Zukunft verursachen werden, wenn wir sie nicht beheben.

Denn schon seit Jahrzehnten, genauer gesagt etwa seit den 70er Jahren, hat sich in der Ökonomie die Grenzwerttheorie durchgesetzt und ist so wirkmächtig geworden, dass sie weder hinterfragt noch groß diskutiert wird. Der dahinter stehende Wertbegriff lässt sich auf folgende Kurzformel bringen: Alles, was auf dem Markt einen Preis erzielt, schafft (in gleichem Maße) auch einen Wert.

Dass es eine zumindest diskutable These ist, wenn Preis und Wert auf diese Weise gleichgesetzt werden, beweisen für Mazzucato nicht nur jahrhundertelange Theoriediskussionen, in denen Adam Smith, Karl Marx und andere Größen der Volkswirtschaftslehre zum Teil völlig andere Wertbegriffe lanciert und verteidigt haben. Auch die praktischen Folgen, die mit der impliziten Annahme der Theorie einhergehen, sind nicht unbedingt wünschenswert. Denn für die Grenzwerttheorie existiert schlicht keine Unterscheidung zwischen Tätigkeiten, die echten Wert schaffen, und solchen, die durch ihre Hilfsleistungen lediglich einen Teil dieses von anderen geschaffenen Wertes abschöpfen.

Die Finanzindustrie mit ihren vielfachen Ausformungen und Tätigkeitsfeldern ist für Mazzucato paradigmatisch dafür, dass die zur Wertschöpfung umdefinierte Wertabschöpfung längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Auch die Plattform-Konzerne zeigen im Digitalzeitalter ein ähnliches Talent dabei, Wert zum eigenen Vorteil (und zum Nachteil aller Wertschöpfer, die für diese Plattformen direkt oder indirekt bezahlen) zu extrahieren.

Die Finanzialisierung des Lebens

Für die BIP-Rechnung macht das keinen Unterschied. Denn die ihr zugrunde liegende Grenzwerttheorie besagt: Solange jemand bezahlt, entsteht auch ein Wert. Auf Basis dieses BIPs haben Staaten und Regierungen in alle Welt in den letzten Jahrzehnten Entscheidungen getroffen, mit denen die Wertabschöpfung erleichtert und gefördert wurde. Schließlich sorgte ja auch eine größere Wertabschöpfung für ein steigendes BIP, dem allgültigen Nachweis einer guten Wirtschaftspolitik. Die zunehmende Liberalisierung der Finanzmärkte ist das augenfälligste Beispiel dieser Entwicklung. Längst sind alle Bereiche unseres Lebens und Wirtschaftens, vom Gesundheitssystem bis zur Unterhaltungsbranche, davon erfasst: Die Finanzindustrie kolonialisiert die Wirtschaftswelt.

Überhaupt war eine der Hauptursachen der globalen Finanzkrise 2008/09, dass immer waghalsigere Methoden der Wertabschöpfung eingesetzt wurden – ohne die reale existierende Gegenwerte. Zwar wurden seitdem einige Liberalisierungen zurückgedreht und die Regularien für den Finanzsektor vor allem in Europa teilweise verschärft. Doch diese oberflächlichen Korrekturen sind eine reine Symptombekämpfung und ändern nichts an dem tiefer liegenden Problem: Weil wir uns heute nicht mehr mit der Frage beschäftigen, wie Wert überhaupt entsteht, fördern die Regeln unseres Wirtschaftssystems auf wenig subtile Weise Tätigkeiten, die zwar nach Wertschöpfung aussehen, eigentlich aber nur besonders erfolgreiche Methoden der Wertabschöpfung sind: Ihre Gewinne erzielen sie mit den von anderen geschaffenen Werten.

Der normative Kern der Ökonomie

Wenn wir diesen Fehlentwicklungen entgegenwirken wollen, ist eine offene Diskussion des Wertbegriffs, wie sie Mazzucato fordert, unbedingt notwendig. Die Ökonomie ist und bleibt – trotz aller Versuche, sich einen naturwissenschaftlichen Anstrich zu geben – eine Sozialwissenschaft. Und vielleicht mehr noch als alle anderen Sozialwissenschaften hat sie einen normativen Kern: Der Wertbegriff ist seit den frühesten Ursprüngen ökonomischen Denkens bei Aristoteles auf Engste verbunden mit der Frage nach dem guten Leben und der richtigen Staatsform.  

Natürlich ist das für die Ökonomie eine Herausforderung. Im postmetaphysischen Zeitalter der Moderne können Antworten auf normative Fragen nicht mehr mit dem Verweis auf göttliche oder weltliche Autoritäten begründet werden. Was Wert schafft und was nicht, was wertvoll ist und was nicht – das sind Fragen, die ständig neu diskursiv aufgegriffen werden müssen und immer nur vorläufig beantwortet werden können. Doch den normativen Kern der Ökonomie zu verleugnen, um dieser Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, schafft ihn nicht aus der Welt.

Fazit

Ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich mit den praktischen Folgen der normativen Grundlagen unseres Wirtschaftssystems auseinander setzen und verstehen wollen, wo die Neuordnung des ökonomischen Denkens ansetzen muss, um eine Wirkung zu entfalten.

Mariana Mazzucato: Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern (2019).

Anmerkung: Die deutschsprachige Übersetzung mag inhaltlich korrekt sein, doch ihre übertrieben Nähe zum englischsprachigen Original in Syntax und Wortwahl macht das Lesen anstrengender, als es sein müsste. Allen mit Grundkenntnissen der englischen Fachbegriffe empfehle ich daher, das Werk im Original zu lesen. Mariana Mazzucato: The Value of Everything. Making and Taking in the Global Economy (2018).