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Die Welt aus der Känguru-Perspektive

Abnormes aushalten

Wenn wir von Gesetzen, Regeln oder informellen Normen überzeugt sind, fällt es uns oft schwer, Verstöße dagegen zu akzeptieren. Ob es ums Klima geht, ums Impfen oder ums Bezahlen der Steuern – wer von einer Regel überzeugt ist, will sie auch durchgesetzt wissen. Doch Verstöße gehören sie zu einer liberalen Gesellschaft dazu. Wer sie gänzlich unterbinden will, landet in einem totalitären Kontrollstaat.

Trittbrettfahrer können einem den letzten Nerv rauben. Da hat man endlich ein allgemeines, vernünftiges System gefunden, wie die Steuerlast verteilt wird, die Kosten für die Sozialfürsorge oder für den öffentlichen Nahverkehr – doch ein gewisser Prozentsatz von Menschen schert sich einfach nicht darum, hinterzieht Steuern, fördert Schwarzarbeit und löst im Zug kein Ticket.

Das Trittbrettfahrerproblem ist ein klassisches Problem bei der Verteilung von kollektiven Gütern (und bei sogenannten Allmendegütern). In unserer Gesellschaft gibt es sehr viele Situationen, in denen es sich stellt: Dazu gehören Gesetze wie die obigen Beispiele, aber auch viele informelle Normen wie Freundlichkeit gegenüber Fremden oder die Tatsache, dass man ein Hotelzimmer nicht so hinterlässt, als würde man niemals wiederkommen. Im Prinzip kann man fast jede kollektive Regel aus dieser Perspektive betrachten – bis hin zum Verbot von Mord und Totschlag.

„Ja, wenn das alle machen …“

Allgemeine Regeln mit und ohne Gesetzeskraft haben meistens eine gute Begründung: Sie machen das Leben für alle einfacher und angenehmer – wenn sich denn alle daran halten. Aus moralischer Sicht ist die Sache in vielen Trittbrettfahrersituationen daher klar: Wir wissen, dass es falsch ist, Steuern zu hinterziehen. Mit Immanuel Kant gesprochen: Die Maxime dieser Handlung ist nicht verallgemeinerbar und daher unmoralisch. Oder in der kürzeren und geläufigeren Version des Arguments: „Ja wenn das alle machen würden …“

Die Schwierigkeit besteht jedoch nicht in der moralischen Be- und Verurteilung der Trittbrettfahrer*innen, die häufig genug wissen, dass sie etwas Falsches tun – sondern darin, welche Folgen man daraus für die Gesellschaft und ihre Organisation ableitet. Wenn man das Trittbrettfahrertum eindämmen will, braucht es eine übergeordnete Instanz, welche die Einhaltung der gemeinsam aufgestellten Regeln kontrolliert und Übertretungen sanktioniert. Diese Instanz kann z. B. als Finanzpolizistin auftreten oder als Fahrkartenkontrolleur – und muss nicht zwangsläufig ein omnipotenter Staat sein: Auch eine soziale Ächtung kann (bei informellen Regeln) eine ähnliche Funktion erfüllen. Eine Regelübertretung muss in jedem Fall mit einer so hohen Wahrscheinlichkeit unangenehme Folgen haben, dass sich eine abschreckende Wirkung einstellt. Anders gesagt: „Es zahlt sich nicht aus.“

Regeln brauchen Durchsetzung

In der Praxis können kontinuierliche Kontrollen in Kombination mit moderaten Sanktionen ebenso wirksam sein wie sporadische Kontrollen mit drakonischen Strafen (das „italienische Modell“). Der kritische Punkt ist: Keines der praktizierten und praktikablen Modelle wird unserem moralischen Empfinden vollends gerecht, denn nie können alle Übertretungen erfolgreich geahndet werden. Wir begegnen ihnen also immer wieder: im Alltag und im Freundeskreis, vor allem aber in den analogen und digitalen Medien.

Dieser Umstand wird dann zum Problem, wenn jeder Einzelfall einer Übertretung im medialen Scheinwerferlicht und im Strudel der Shitstorms emotional so stark aufgeladen wird, dass er als Systemfrage erscheint. Natürlich ist diese eine, nun gerade vorliegende Übertretung zu verurteilen. Doch nicht jeder Einzelfall ist Ausdruck eines systematischen Problems, nicht jedes Utøya ein Uvalde. Und nicht immer ist der Aktionismus, der sich nach gravierenden und weniger gravierenden Einzelfällen in der Politik (aber nicht nur) Bahn bricht, gerechtfertigt.

Einzelfall oder systematisches Problem?

Wenn eine Regelübertretung passiert – ob es eine Schlägerei unter Teenagern ist oder ein Bauvergehen – muss man genau analysieren, wie verbreitet das Phänomen ist. Denn eines ist klar: Regeln und Kontrollen können und sollen zwar im Übertretungsfall für Konsequenzen sorgen. Aber selbst die besten Regeln und die beste Kontrolle können und sollen Übertretungen nicht vollends verhindern. Und noch schlimmer: Es wird immer jemanden geben, der die Regel auf unfaire Weise ausnutzt oder von einer Ungenauigkeit im Gesetz profitiert. Wir leben zum Glück nicht in einem alles kontrollierenden Überwachungsstaat, sondern in einer liberalen Demokratie.

Unsere Freiheit ist manchmal von überraschender Seite in Gefahr: Die Emotionalisierung und Medialisierung unserer Welt hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass uns Situationen, in denen nach stärkeren Kontrollen und schärferen Gesetzen gerufen wird, nach genaueren Unterscheidungen in der Regel und nach mehr Konsequenzen für diejenigen, die sie übertreten, immer häufiger begegnen.

Die Folge: Wir haben in sehr vielen Bereichen Gesetze, die jeden Einzelfall und jede Sondersituation möglichst genau regeln, in der (unerfüllbaren) Hoffnung, dass alles gerecht zugeht und niemand übervorteilt wird. Wir schimpfen kollektiv über den einen Fall, den das System eben doch nicht gerecht erfasst hat, der zu viel bekommen hat (wenn jemand anderes betroffen ist) oder zu wenig (wenn wir selbst betroffen sind). Am allermeisten aber schimpfen wir über die ausufernde Bürokratie, die unser aller Freiheit einschränkt – die jedoch erst unter dem Druck des kollektiven Anspruchs nach vollständiger Gerechtigkeit entstanden ist.

Der Preis unserer Freiheit

Gerade bei Regeln, die wir selbst für wichtig halten – für den einen ist es die Impfpflicht, für die andere diskriminierende Sprache – fällt es uns manchmal schwer zu akzeptieren, dass es keine totale Kontrolle gibt und keine absolute Durchsetzung der Regel. Unser moralisches Empfinden sagt uns, dass jeder Fall Gerechtigkeit verdient.

Und tatsächlich werden die kleineren und größeren Übertretungen nicht moralisch besser, nur weil sie zu einer freien Gesellschaftsordnung dazugehören. Doch eine liberale Gesellschaft muss Abweichungen von der Norm bis zu einem gewissen Punkt aushalten können – selbst wenn sie durch Regelübertretungen zustande kommen und zu einer ungerechten Verteilung von Vor- und Nachteilen führen. Es ist der Preis, den wir für unsere Freiheit zahlen.